Composite Heritage – Das Fremde gehört zum Eigenen
Wie Composite Heritage in Indien entstand
Im Jahr 2002 starben über Tausend Menschen, vorwiegend Moslems, im indischen Bundesstaat Gujarat als Opfer von Massakern. Über die Hintergründe und die Verwicklungen staatlicher Stellen gingen die Meinungen auseinander. Für Dr. Khurshid Anwar, Leiter einer Nicht-Regierungsorganisation in New Delhi, war diese Erfahrung jedoch der Ausgangspunkt für eine grundlegende Neuorientierung seiner bisherigen Arbeit für Entwicklung, Frieden und Menschenrechte in seinem Land. Er erkannte, dass Zivilgesellschaft in solchen Situationen immer zu spät kommt, nur reagieren kann, während die spaltenden Kräfte das Geschehen bestimmten. Wie kann Zivilgesellschaft aus der Schadensbegrenzung hinauskommen? Was kann getan werden, damit Konflikte nicht in Gewalt ausbrechen? Wie hält eine Gesellschaft zusammen, die so voller Konflikte steckt? Und was bringt Menschen trotz all ihrer Gegensätze zu einander?
Viele Gemeinsamkeiten in einer zersplitterten Gesellschaft
Mit seinen Kolleg*innen im Institute for Social Democracy, einer friedens- und menschenrechtsorientierten NGO in Neu Delhi[1], machte sich Khurshid Anwar auf die Suche nach den Gemeinsamkeiten in den Gesellschaften Südasiens und wurde überaus reichhaltig fündig. Sie fanden Tänze, Spiele, Sprachen, Lyrik, Plätze gemeinsamer religiöser Anbetung. Aber auch Wirtschaftsweisen, Essen und Trinken, Lebensgewohnheiten und materielle Güter gehörten als kulturelle Güter nicht nur einer sondern wurden von allen Gemeinschaften in einer Region geteilt.
Eine neue Sicht auf die Gesellschaft: Die verbindende Schnittmenge
Ein neuer Blick auf die Gesellschaft tat sich auf: Was sind die Orte, an denen sich Menschen trotz ihrer Unterschiede begegnen? Was teilen sie alle mit einander? Welche öffentlichen Räume sind für alle zugänglich? Gibt es so etwas wie ein gemeinsames Erbe, das alle mit einander teilen, trotz ihrer Unterschiedlichkeit? Was ist diese Schnittmenge, die verschiedenste Identitäten überbrücken und verbinden kann? Was bringt Menschen trotz ihrer Verschiedenartigkeit, ja Gegensätzlichkeit, zusammen?
Am Ende vieler Workshops, Gespräche und Explorationen stand das Konzept des „Composite Heritage for Peace, Harmony and Democracy“. Darin bildet sich ein Verständnis eines gemeinsamen, zusammengesetzten Erbes ab, das in einer Gesellschaft vorhanden ist und das in Richtung auf Frieden, Harmonie und Demokratie in einer Gesellschaft wirken kann. Im Detail führt dieses Konzept dazu, in einem gegebenen Kontext das kulturell Gemeinsame herauszuarbeiten. Denn dieses kann unterschiedliche Identitäten mit einander verknüpfen ohne dass diese ihre Einzigartigkeit und Verschiedenartigkeit aufgeben müssen.
Immun machen gegen Aufwiegler
Mit dem Konzept von „Composite Heritage“ setzen die Aktivisten in Indien seitdem dem sehr wirksamen Machtspiel, das „Identitäten“ gegeneinander ausspielt, etwas entgegen. Composite Heritage ist ein Ansatz, der genau diesen Punkt der Mobilisierung von Identitäten aufgreift. Damit halfen sie den Menschen zu verstehen, dass und wie Identität zustande kommt – quasi konstruiert wird. Damit konnten Betroffene in einem Konflikt durchschauen, wer denn da auf einmal Identitäten, die ihnen wichtig waren, gegen einander ausspielte. Einzelne und Gruppen lernten, Identität bewußt und positiv selber zu gestalten. So konnten sie das Zusammenleben mit unterschiedlichen Kulturen, Geschichten, Lebensformen und Lebensgewohnheiten, Religionen, Sprachen und Wirtschaftsweisen als Zukunftschance begreifen und leben. Und denjenigen eine Abfuhr erteilen, die ihnen weismachen wollten, dass nur ein bestimmtes Erbe ein gutes sei.
Das Fremde im Eigenen, der ewige Wandel der eigenen Kultur
Mit Composite Heritage konnten die Menschen überidies entdecken, dass das, was sie als das eigene kulturelle Erbe wahrgenommen hatten, sich lebendig aus dem Austausch und der Begegnung mit anderen Kulturen entwickelt. Diese Erkenntnis der gemeinsam geteilten Vielfalt nahm interessanter Weise dem „eigenen“ Erbe nichts von seiner Identität stiftenden Kraft, im Gegenteil. Die Anerkennung dieser schlichten Erfahrung ermöglichte es vielmehr, das Anderssein von Anderen zu erkennen und als Beitrag in einer gelebten Beziehung zu würdigen. Dem war voraus gegangen, dass man das eigene vielfältige kulturelle Erbe erkannt und gewürdigt hatte.
Seit 15 Jahren ist das Institute for Social Democracy (ISD) auf dem indischen Subkontinent mit Composite Heritage unterwegs. Es hat viele Methoden und Formen entwickelt, um sehr unterschiedliche Adressaten für dieses Thema zu sensibilisieren. Am Ende erlebten sie sich nicht länger als Getriebene. Sie hatten die Manipulation ihrer „nationalen“, „religiösen“, „gender“ oder anderer Identitäten durchschaut.
Composite Heritage in Konfliktkontexten
Seit dem Beginn im Jahre 2005 habendas Institute for Social Democracy und befreundete Organisationen Composite Heritage in zahlreichen Kontexten in Südasien angewendet. Diese umfassten Situationen von massiven gewaltsamen Konflikten bis zu Konflikten ohne Gewaltanwendung. Es zeigte sich, dass es gelingen konnte, Menschen über Konfliktlinien hinweg wieder zusammenzubringen, und dass dabei Composite Heritage eine verbindende Rolle spielte.
Interessanterweise ist im US-amerikanischen und europäischen Raum im selben Zeitraum das Konzept der lokalen Friedenskapazitäten (Local Capacities for Peace, LCP) entstanden. Wie kompatibel beide Konzepte sind, fiel den Entwicklern bereits früh auf. Offenbar beschränkt sich die Wirkungsweise von Composite Heritage nicht nur auf einen bestimmten kulturellen Kontext.
Auch aus diesem Grund erscheint ein Transfer dieses Konzeptes aus dem spezifischen südasiatischen in den europäischen Kontext sinnvoll und möglich.
Composite Heritage als Entdeckungsreise in die Bindungskraft der eigenen Kultur
Ein Workshop in Composite Heritage ist eine Entdeckungsreise in eine ungewohnte Welt. Der Blick richtet sich auf die eigene Gesellschaft Was gibt es hier an kulturellen Gütern, die so selbstverständlich und gewohnt ist, dass sie in der Regel nicht wahrgenommen werden? Was ist der eigene Ort in dieser Gesellschaft? Das ermöglicht Distanz, aber auch das Erleben von Verbundenheit und ein genaueres Verstehen, wie tief eine kulturelle Prägung im einzelnen Menschen wirkt.
Die Schritte im Workshop bestehen daraus, zunächst ein Verständnis für das eigene gesellschaftliche Erbe zu entwickeln. Es ist nicht starr, sondern wandelt sich mal hier, mal da. Nimmt von anderen, gibt was vom Eigenen. Wenn dieser umfassende Prozess verstanden ist, richtet sich der Blick auf den Alltag. Denn im Alltag entfaltet das geteilte, gemeinsame und zusammengesetzte Erbe seine prägende Kraft.
Die Gretchenfrage: Trennt oder verbindet Composite Heritage die Menschen?
Im nächsten Schritt wird die wichtige Unterscheidung in das positive und das negative gemeinsame Erbe eingeführt. Indien zum Beispiel ist nicht denkbar ohne das Kastensystem. Es ist ganz klar ein gemeinsam geteiltes Erbe, aber eines, das Menschen spaltet. Aber auch das geschieht nicht „von selbst“, sondern ist das Ergebnis von Machteinflüssen. An dieser Stelle wird das Konzept von Composite Heritage hoch bristant. Denn es erlaubt, in einem gegebenen Kontext systematisch die Fragen nach Politik, Macht und Interesse zu stellen.
Mit Composite Heritage Konflikte neu verstehen
Am Anfang von Composite Heritage stand die Erfahrung von Gujarat! Das Konzept steht dafür, Konfliktsituationen so zu verstehen, dass am besten frühzeitige Interventionen möglich werden. Wenn die gemeinsam geteilten Räume Zielscheiben für Angriffe werden, kann das ein wichtiges Frühwarnzeichen sein. Meistens ist dem schon eine Zeit voraus gegangen, in der Begegnungen geringer wurden. Wer da hellhörig geworden ist, hat gelernt, auf die Zeichen zu achten.
Aber auch, wenn Gewalt sichtbar geworden ist, kann Konfliktstoff wieder verringert werden, in dem das gemeinsam geteilte Erbe bereichert, gestärkt und bewahrt werden kann.
Mit Composite Heritage gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa und Deutschland stärken?
Gesellschaftliche Spaltung und Ausgrenzung kennen wir vielfältig auch in Deutschland. Die Abwertung ganzer Bevölkerungsgruppen und ungeklärte Identitätsfragen werden in Europa und Deutschland zunehmend virulent. Es gibt viele Ansätze, die Antworten bieten. Deswegen ist die Frage berechtigt, was ein neuer Ansatz mehr zu bieten hat als das, was schon da ist.
Besonders beeindruckend ist die Wirkung, die Composite Heritage auf Menschen macht, die von Konflikten direkt betroffen sind. Sie entwickeln eine Haltung, die Unterschiede anerkennt und immun dagegen macht, sich gegen andere Bevölkerungsgruppen ausspielen zu lassen. Composite Heritage hilft, die Mobilisierung von Gruppen gegeneinander zu erkennen. Es gibt Hinweise, was präventiv, aber auch deeskalierend und heilend getan werden kann.
Eine mit-menschliche Weise, Identität zu verstehen
Die Frage nach der Identität ist bei Composite Heritage zentral. Es bietet es einen humanistischen, zutiefst menschlichen Ausgangspunkt, um die Frage zu stellen: Wie wird Identität konstruiert? Können selbst nationale Identitäten tolerant, d.h. ohne Rückgriff auf ausgrenzende Rhetorik und Feindbilder gestaltet werden? Composite Heritage packt diese Fragen an: Wer bin ich? Zu wem gehöre ich? Was gehört zu mir? Es ermuntert, selbst bestimmte Antworten zu finden, die andere Menschen achten und die Freiheit der Wahl der eigenen Identitäten anerkennen. Die Kraft der Kultur systematisch zu nutzen, um gesellschaftliche Konflikte strategisch anzupacken, das ist denn auch das Besondere am Composite Heritage-Ansatz.
Die Leiterin des indischen Instituts ISD Institute for Social Democracy, Frau Shruti Chaturvedi, ist bereit, einen möglichen Konzepttransfer in einem explorativen Workshop zu erkunden.
Literatur
Khurshid Anwar: Composite Heritage for Peace, Harmony and Democracy. Training Handbook for Trainers and Activists, New Delhi 2007.
Shruti Chaturvedi: Composite Heritage. Concept Note, New Delhi 2016.
Institute for Social Democracy, ISD Team: Our Journey for Peace, Harmony and Democracy, New Delhi 2016.
Die Autorin, Dr. Barbara Müller, Moderatorin, Coach und Friedens- und Konfliktforscherin, hat Composite Heritage als Co-Moderatorin von drei ASHA-Workshops (Advanced Social-Historical Analysis) miterlebt.
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