Entspannteres Deutschsein
Ein Reisebericht in Etappen
Ich bin auf dem Weg, in meiner Geschichte anzukommen. In meiner eigenen, der meiner Eltern und meiner Gesellschaft. Ich ahne, dass diese Reise noch viel weiter in die Vergangenheit führen wird und dass die Antworten ziemlich große Kreise ziehen werden. Auf dieser Reise bin ich mit mir unterwegs, als Individuum, aber auch als Teil dieser deutschen Gesellschaft. Die Beiträge in dieser Reihe erzählen die bisherigen Etappen dieser Reise.
Entspannteres Deutschsein – ein Luxusproblem von Herkunftsdeutschen?
„Entspannteres Deutschsein – darüber kann sich auch nur Gedanken machen, wer sich seines Deutschseins sicher sein kann. Das sind doch echte Luxusprobleme! Diese Frage stellt sich doch ganz anders, wenn ich nicht aussehe wie Deutsche nun mal aussehen und dauernd erklären muss, dass ich Deutsche bin!“ Ja, unsere deutsche Gesellschaft ist reich und vielfältig. Viele sehen sich als Deutsche, werden von anderen aber nicht so gesehen.
Selbstverständliches, entspanntes Deutschsein trifft auf verkrampftes Deutschsein….
Mir ist das selber so gegangen. Ein Kollege aus der Konfliktforschung, sagte neulich: „Da müssen wir Deutsche endlich an das Problem ran!“ Ich bemerkte ein inneres Aufzucken bei mir. Ich habe noch nie jemanden so selbstverständlich „wir Deutsche“ sagen hören. Und dabei sah er gar nicht so blass aus, wie Deutsche auszusehen haben. Was war das, was mich so reagieren ließ?
Ich lauschte dieser inneren Stimme und war verblüfft. Diese innere Stimme war neidisch auf den Mann mir gegenüber, weil der wählen konnte. Zwischen mehreren nationalen Identitäten. Und dass er sich auch für die deutsche Identität entschieden hatte, konnte diese innere Stimme nicht verstehen. „Wie“, so fragte diese innere Stimme, „kann man sich freiwillig dafür entscheiden, Deutscher sein zu wollen? Bei dieser Geschichtslast?“ Und dass mein Gegenüber mit seinem Deutschsein so sehr im Reinen war, das machte sie sogar ein bisschen böse: „Du“, sagte sie (im Stillen zu ihm), „Du kannst doch gar nicht mitreden, was es heißt, Deutscher zu sein. Du hast das doch gar nicht in den Knochen Deiner Vorfahren stecken.“
Ja, und dank dieser Bemerkung meines Kollegen hatte ich die Chance, einen inneren Teil in mir kennen zu lernen, der das Deutschsein sehr verengt sieht. Verengt auf eine Herkunftsgemeinschaft, die die belastete Geschichte in ihrer Ahnenreihe hat. Seit ich diesen Teil kennengelernt habe weiß ich, dass das Ankommen in der eigenen Geschichte kein Luxusproblem von Herkunftsdeutschen ist. Sondern es ist eine Art Hausaufgabe. Ich wende mich meiner Geschichte des Deutschseins zu, und das klärt meinen Blick auf die vielen anderen Deutschen mit anderen Geschichten, die genauso deutsch sind wie ich, nur anders.
Eine Gesellschaft, die in ihrer eigenen Geschichte zuhause ist, kann auch in der Zukunft bestehen
Mit diesem Gedanken ging es los.
Es war ein gedanklicher Hüpfer, der mich dorthin brachte. Ich war mit einem interessanten Buch beschäftigt. Es ging darum, wie Menschen ihr ganzes unbewusstes Wissen in gute Entscheidungen einfließen lassen können. Eine Antwort auf diese Frage war: Indem sie alle ihre bisherigen Erfahrungen – gute wie negative – zur Lösung heranziehen können. Solange sie es indessen versäumen, ihre negativen Erfahrungen wirklich anzunehmen und konstruktiv zu verarbeiten, müssen sie leider dieselben Fehler immer wieder machen. In diesem Moment machte es „pling“: Wenn das für einzelne funktioniert, wieso nicht auch für Gemeinschaften von Menschen?
Wenn uns jetzt die Zukunftsfragen so sehr beuteln, wie können wir unser ganzes Potenzial an Wissen und Können als Gesellschaft besser ausschöpfen? Kann es sein, dass wir noch etwas zu lernen haben? Kann es sein, dass wir auf die Frage: Wer ist wir? – gerade ziemlich verkrampft reagieren?
Zerreissende Zukunftsfragen brauchen ein entspannteres Deutschsein
Die Gegenwart mit ihren Herausforderungen baut sich gerade drohend vor uns als Gesellschaft auf. Die Frage ist: Wie schaffen wir es als Gesellschaft, gute Antworten zu finden auf die Spaltung der Generationen und der Gesellschaft entlang von Reichtum und Armut? Wie kriegen wir die Kurve, um uns an immer größere Veränderungen unserer Umwelt anzupassen ohne die Gesellschaft zu zerreissen? Wie schaffen wir es, diese polarisierenden Fragen in einer Weise zu bearbeiten, dass alle auf Augenhöhe mitreden und mit-entscheiden können, die dazu gehören? Oder polarisiert sich diese Gesellschaft weiter, entlang von Identitäten, die nur noch innerhalb ihrer Kommunikationsblasen Verständnis und Empathie mit einander teilen? Für die es aber darüber hinaus kein „Wir“ mehr gibt? Vermutlich treibt mich das Thema deswegen so um, weil ich das Konzept des Composite Heritage im Hinterkopf habe.
Was lehrt uns unsere Geschichte über unser großes „Wir“?
Es gibt bessere und schlechtere Antworten auf die Zukunftsfragen. Mich interessieren die besseren. Das sind Antworten, die Menschlichkeit atmen. Dazu gehören Fragen wie:
Wie vermeiden wir Lösungen auf Kosten anderer Menschen? Was können wir tun gegen den Hang, sich zurückzuziehen, sich abzuschotten und „Andere“ – wer immer das dann im Einzelfall ist – auszugrenzen? Lassen sich diese ausgrenzenden, nur noch polarisierenden und polemisierenden Debatten überwinden? Was führt zu diesen reflexhaften Wegbeiß-Reaktionen?
Vom ausgrenzenden zum entspannteren Deutschsein
Die deutsche Gesellschaft hat intensive Erfahrungen mit dem Ausgrenzen von Menschen, mit dem Zerstören und Zerstückeln eines demokratischen „Wir“ gemacht. Deswegen ist es ja so wichtig, diese Vergangenheit genau zu betrachten, sie anzunehmen und aus ihr zu lernen. Ich frage deshalb jetzt: Wer gehört zu dem „Wir“, das hier in diesem Land mit einander reden muss? Was ist überhaupt „unsere“ Geschichte? Wo müssen oder sollen „wir“ ankommen?
Was hat ein entspannteres Deutschsein mit alledem zu tun?
Es ist die Frage nach dem „Wir“. Ein Teil dieser Antwort hat etwas mit der Identität als Deutsche oder Deutscher zu tun. Deutsch im Sinne als Teil eines Staatsvolkes, das der letzte, tiefste Souverän ist, solange es noch Staaten gibt. Dieses Volk, das ich meine, ist den älteren unter uns bereits leibhaftig begegnet. Zum Beispiel am 9. Oktober 1989 auf dem Ring in Leipzig, an einem Montag[1]
Aber ich greife vor…
Zuversichtlicher Ausblick trotz mancher Untiefen auf der Reise
Mein bisheriger Reiseverlauf hat mich überraschender Weise eher zuversichtlich gemacht. Unter vielen Schlacken gilt es einen Schatz zu heben: die Aussicht auf ein friedvolles, herzensoffenes und neugieriges Deutschsein. Lernen Sie diesen Schatz mit mir kennen.
Die bisherigen Etappen im Überblick
Einleitung: Entspannteres Deutschsein. Ein Reisebericht in Etappen
Etappe 1: Identität und Deutschsein
Etappe 2: Deutschsein mit Composite Heritage erkunden
Etappe 3: Ankommen in der eigenen Geschichte
[1] Welches Volk meine ich? Fahren Sie nach Leipzig, gehen Sie in das Zeitgeschichtliche Forum und begeben sich im 2. Stock zu den Filmmitschnitten vom 9. Oktober in Leipzig. Stichwort: „Friedliche Revolution“. Dann wissen Sie, welches Volk ich meine. Zwar habe ich die Zeit selber miterlebt und mitgefiebert. Aber so richtig verstanden, was da passiert ist, habe ich erst in diesem Sommer bei meinem letzten Besuch. Bin gespannt, wie es Ihnen geht.
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